Fluchbrecherin

 

Leseprobe:

 

Prolog – 1799

Grand Canyon of the Yellowstone, Wyoming, USA

„Vertraust du mir?“

Er lächelte und schlang die Arme fest um meinen Oberkörper.

Die Morgendämmerung legte eine fast unwiderstehliche Wärme auf sein markantes Gesicht. Auch ich lächelte. Wir standen allein auf einem Hochplateau. Die dichten, vor der Sonne schützenden Tannen in unmittelbarer Nähe. Ich hatte den Ort mit Bedacht gewählt. Bisher hatte kein weißer Mensch jemals diese endlose Weite betreten. Wir waren völlig allein. „Dann schließe die Augen.“

Hauchfeine Gischt schwebte über dem Wasserfall, der tosend in die Tiefe donnerte, benetzte die Umgebung und kräuselte sein schwarzes Haar. „Die Sonne geht bald auf.“

„Ich weiß.“ Ich lächelte verschmitzt.

„Du liebst die Gefahr. Das gefällt mir.“

Ich atmete tief die frostige Luft ein und senkte ebenfalls die Lider. Lange hatte ich auf diesen Moment hingearbeitet. Er hatte mein Spiel nicht durchschaut, dachte, ich mochte ihn wie eine Dame einen Herren. Ich sammelte meine Kräfte, erhob mich auf die Fußballen, legte ihm meine kühlen Handflächen auf die Schläfen und berührte sanft seine Stirn mit den Lippen.

Ich küsste ihn nicht, ich gab ihm damit meinen Segen.

Ich gab ihm den erlösenden Kuss einer Fluchbrecherin.

Ich wartete, stutzte.

Nichts geschah.

Enttäuschung und Verzweiflung erfassten mich unvorhergesehen stark wie eine aufbauschende Orkanböe.

Ich küsste ihn erneut, fast grob presste ich meinen Mund auf seine glatte Haut.

Wieder nichts. Die erhoffte Segnung blieb aus.

Innerhalb eines Wimpernschlags sickerte in mein Bewusstsein, was ich tun musste. Der Grund, weshalb ich existierte. Ich konnte ihm nicht mehr helfen, er hatte seinen Untergang selbst besiegelt. Mir blieb keine Wahl, wollte ich weiteren Frauen den Tod ersparen und meine Eltern sowie viele andere von ihrem grausamen Schicksal der Verbannung erlösen.

Meine Entscheidung sprengte die meinem Herzen auferlegten Fesseln. Ich wollte Leben retten, Gram lindern, Verlorenen Mut spenden und vor allem Verfluchte erlösen, aber dennoch musste ich jetzt tun, wofür ich geboren worden war.

Ich löste meine Lippen von seiner Stirn, beendete den Kuss, der alles Leid nach so langer Zeit hätte beenden können, befreite mich aus seiner Umarmung und versetzte ihm mit all meiner Kraft einen Stoß vor die Brust.

Er flog in hohem Bogen nach hinten und stürzte in die Tiefe. Ein Blick voller Bestürzung und Hass traf mich. Es ließ mich kalt. Sein Schrei hallte zwischen den dreihundert Meter hohen Gesteinswänden nach, als ein dumpfes Poltern und Knacken seinen Aufprall verrieten.

Es war noch nicht vorbei. Um einen Vampir seines Formates zu töten, bedurfte es mehr als dieses Sturzes. Ich musste handeln. Rasch kletterte ich den vulkanischen Felshang hinab. Die Gischt des Lower Falls legte eine gefrorene Schicht auf das rötliche Gestein, hüllte mich in eisige Nebelschwaden. Das Tosen der Wassermassen verband sich zu einem immerwährenden Donnergrollen.

Die Knochenbrüche würden den Mann, dem ich fast zwei Wochen lang meine keusche Liebe vorgespielt hatte, hoffentlich aufhalten, bis ich meinen Schwur erfüllt hatte.

Ruhe erfasste mich, als meine Stiefel in dem Schnee des bedeckten Steinvorsprungs versanken. Die Sonne stieg unaufhaltsam gen Himmel und ließ die Schattenkante die gegenüberliegende Felswand hinab-, unaufhörlich auf uns zukriechen. Ihre zerstörerische Kraft würde mir bei meiner schweren Aufgabe, ihn endlich zu vernichten, zur Seite stehen.

Ich starrte auf den Mann, der in meinem Denken die Bezeichnung Cardiac erhalten hatte, was ‚das Herz betreffend‘ bedeutete, da alle Frauen ihm herzkrankverliebt folgten und ohne äußere Verletzungen in den Herztod gingen.

Ich ersetzte bei all meinen Verfolgten den richtigen Namen durch einen Begriff, um sie persönlich nicht noch näher an mich herankommen zu lassen, als es ohnehin schon der Fall sein musste. 2190 Mondaufgänge war ich Cardiac’s Frauenspur gefolgt, bis ich ihn endlich ansprach, um ihn von seinem Fluch zu erlösen. Nun würde ich, statt ihn zu retten, zur Mörderin werden, um meiner Bestimmung zu folgen und Sündlosen Leid zu ersparen.

Cardiac lag auf einem Findling, der wie ein Eisberg nur mit einem unbedeutenden Teil aus dem klirrend kalten Wasser herausragte, die Glieder verrenkt wie tot. Vor Nervosität lachte ich auf. Selbst in diesem Zustand sah sein Gesicht noch ungemein verführerisch aus.

Die Sonnenstrahlen erreichten das andere Ende des tosenden Flusses. Ich sprang vom Ufer auf den glatt geschliffenen Felsbrocken und schloss ihm die Lider. Er brauchte nicht zu sehen, was auf ihn zukam.

Zwar passte sich die Rasse der Vampire Jahr für Jahr durch Metamorphose dem Leben im Licht an, doch es zu überleben war, soweit ich wusste, noch keinem gelungen. Mein Vorteil, da sich in mir das Blut der Pahá Sapá-Vampire und der Incantatrix-Hexen vereinte. Ich mied die Sonne, weil sie mir Schmerzen zufügte, doch zu töten vermochte sie mich nicht.

Keinen Atemzug ließ ich ihn aus den Augen, spähte durch den Schlitz meiner zusammengekniffenen Lider gegen die immer dominanter werdende Helligkeit an. Vehement versperrte ich meinen Sinnen, mir anderes zu suggerieren, als dass es nötig war, was ich tat. Ich konnte ihn nicht mehr durch einen besonderen Kuss auf die Stirn befreien, seinen Fluch nicht lösen. Also musste ich ihn töten.

So viele Fehler hatten mich bis hierher begleitet. Ich trug eine schwere Bürde, die mich nun zu erdrücken drohte, obwohl er die Personifizierung des Teufels darstellte. Wie viele menschliche Ehemänner, Freunde, Brüder, Väter hatten versucht, ihn zu beseitigen, unterlagen ihm, fanden an seiner statt die Verbannung? Jahrelang. Kaum einer trotzte seinem Charisma. Auch ich schwankte. Er vergegenwärtigte den Inbegriff dessen, was jeder begehrte, sogar ich, ein Sonderling, der nicht sein durfte, eine Verstoßene.

Die letzte Fluchbrecherin.

Ich rief mich zur Räson, dennoch marterte mich die Unschuld, die ich in seinem Inneren wahrnahm. Aber seine Mordserie musste ein Ende finden. Cardiac war dem Sensenmann zu viele, unzählige Male von der Schippe gesprungen.

Heute nicht!

Ich strich mein nasses Haar aus dem Gesicht, Eiseskälte lähmte meine Glieder und wohl auch meinen Verstand. Weshalb zögerte ich sonst so lange?

Plötzlich erfasste die Sonne Myriaden Wassertröpfchen, ließ sie wie Diamanten reflektieren und die Schlucht erstrahlen. Ein Seufzer entwich mir, weil sich der gelbe Glutball endlich verschwommen im Wasser abzeichnete, der Schatten dem Licht wie im Wellenschlag wich und nicht nur mir vor Schönheit den Atem raubte.

Cardiac öffnete den Mund. Ein Glitzern schwebte hinaus, schwerelos, unendliche Magie, sein Leben.

So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sein Lebenshauch. Ich senkte den Kopf, betete mit offenen Augen für den, den ich töten musste.

Weitere glitzernden Fäden flossen zwischen seinen Lippen hervor, schienen sich zu einem Zopf zu flechten, schimmerten vor dem Blaugrau des sprudelnden Flusses, der Cardiacs Überreste schlucken würde, wenn er verglüht war.

Die Sonne eroberte den Findling, setzte den Himmel, mein Herz und Cardiac in Brand. Eine ungeheure Erleichterung erfasste mich. Sein Morden fand ein Ende und unzählige Verbannte würden auferstehen. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Ein Zittern schüttelte mich prophezeiend. Sein schimmernder Lebensfaden raste wie eine brennende Zündschnur auf mich zu, bohrte sich durch meinen Brustkorb und schlang sich immer und immer wieder um mein Herz, schnürte es so fest zusammen, bis der Muskel nach zähem Kampf erstarb.

Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel, als ich zu Boden schlug, ins eisige Wasser fiel und der reißende Strom mich anstatt seiner davontrug.

 

Tag 1 – 25. April

Heute – ungefähr 220 Jahre später

Mia klappte ihren Laptop zu und schob ihn in ihre abgewetzte lederne Lieblingstragetasche, als das Flugzeug zur Landung ansetzte. Die Lichter der Landebahn rauschten am ovalen Fenster vorüber und die dünne Schneeschicht verriet den im Internet vorausgesagten Kälteeinbruch für ganz Wyoming.

„Miss Smith? Bitte folgen Sie mir.”

Mia schnallte sich ab, holte ihren Trenchcoat und die Reisetasche aus dem Gepäckfach und folgte der Stewardess der Frontier Airline. Den leicht angesäuerten Blicken der anderen Gäste der ersten Klasse begegnete sie mit einem Lächeln. Am vorderen Ausstieg blieb die Flugbegleiterin stehen, entriegelte die Tür und wartete. Der Airbus stoppte mit einem leichten Ruckeln. Sie öffnete die schwere Flugzeugtür, und just in dem Moment wurde vom Boden aus eine steile Treppe an die Öffnung gefahren. Kalte Abendluft strömte herein.

Die Stewardess nickte freundlich. „Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug und beehren uns bald wieder, Miss Smith.“

„Vielen Dank.“ Mia schlug den Kragen des Trenchcoats hoch, nahm beide Taschen in eine Hand und stieg die Stufen hinab. Ihre Intuition hatte sie nicht getrogen. Offensichtlich benötigte man hier tatsächlich auf schnellstem Wege ihr feines Gespür.

Ab und zu beorderte man sie erst zu einem Fall hinzu, wenn er bereits prekär in eine Sackgasse gefahren worden war. Sie erhielt sterile Fotografien und unemotional vorgetragene Berichte und sollte daraus ihre Schlüsse herleiten. Als würde ein Polizist dieselben Erkenntnisse aus einer zwei Wochen alten Spur ziehen können wie aus einer tathergangsfrischen … Leider zog man sie häufig viel zu spät hinzu. Hoffentlich war es hier anders.

Scheinwerfer kamen über den beleuchteten Flughafenrandbereich auf sie zu. Ihr Taxi? Ein schwarzer Porsche Panamera mit Colorado-Kennzeichen hielt vor der Gangway, und ein Mann in Jeans und Lederjacke spurtete um das Heck. Seine Bewegungen verrieten den Vampir, die dunkelgrünen Augen den scharfen Verstand. Er öffnete ihr die Beifahrertür und bot mit einer Geste an, ihr das Gepäck abzunehmen.

„Willkommen in Cheyenne, der Stadt, in der man sich sogar im Frühjahr den Arsch ganz schnell abfrieren kann.“

Sein Atem kondensierte in der Luft. Mia verkniff sich das Zucken ihrer Gesichtsmuskeln. Sie registrierte stattdessen, mit was für einem Mann sie es zu tun hatte. Normalerweise verschloss sie ihre Gabe in den Wirren des Alltags, da sich ihre Sinne gern verselbstständigten und sie mit einer Informationslawine überrollten, mit der sogar ihr Gehirn nicht zurande kam. Doch ermittelte sie in einem Fall, wollte sie genau wissen, mit wem sie zusammenarbeitete, öffnete teilweise ihren Verstand, um alles, vor allem das unwichtig Erscheinende, in sich aufzunehmen. Diese Befähigung definierte schließlich ihren Job, wenn sich ihr Tätigkeitsfeld auch eher auf Täter und Opfer beschränkte als auf ihre Kollegen.

Mia kannte weder seinen Namen noch seinen Rang, doch die Grübchen um die Mundwinkel verrieten den Sprücheklopfer, den Charmeur, der standhafte Blick den selbstbewussten Charakter, der gepflegte Haarschnitt und die Rasur seine Eitel- und Reinlichkeit. Ein blondes Haar am Jackenabsatz, dass er eher einen Hund besaß, der mit im Bett lag, als eine Frau, und seine Gebärden seinen Respekt gegenüber anderen. Falls er ein Kollege in diesem Fall war, hätte sie es schlechter treffen können. „Vielen Dank. Sind Sie sicher, dass Sie die Richtige ansprechen?“

„Natürlich. Vorzeitiger Ausstieg aus der Maschine, Naturschönheit, Augen wie undurchsichtiger Onyx und das typische, anfängliche Kräftemessen unter unbekannten Kollegen nicht zu vergessen.“ Er grinste und entblößte gepflegte Zähne. „Supervisory Special Agent Dorian Emerald Carther, Ma’am.“

Mia schenkte ihm ein Lächeln, legte ihr Gepäck auf den Rücksitz und stieg ein. „Mia Smith.“

Dass sie der Vampirrasse angehörten, war überflüssig zu erwähnen. Wie immer nahm sie aber beim Gegenüber auch die leichte Skepsis wahr, die ihr sagte, dass sie anders war, als jeder, der ihm bisher begegnet war. Zumindest konnte sie ihre Gabe für Gutes einsetzen, wenn diese sie schon zu einem Außenseiter machte.

Dorian fuhr langsamer, als sie erwartet hatte, vom Cheyenne Regional Airport-Gelände und hielt sich penibel an die Verkehrsregeln, obwohl die Stadt mit den breiten Straßen wie ausgestorben wirkte. Die im Scheinwerferlicht des Porsches auftauchenden Huf- und Stiefelabdrücke im Puderschnee verrieten jedoch, dass sie nicht in einer Geisterstadt gelandet war, obwohl ihre Erinnerung an diesen Ort ihr wie eine neblige Erscheinung im Gehirn umherwaberte. Sie hatte es stets vermieden, in den Bundesstaat Wyoming zu fliegen. Beruflich wie privat.

„Von woher kommen Sie?“, fragte er und umging die Frage, weshalb man sie zum Sonderkommando gerufen hatte. Seine Seitenblicke und der äußerst gelassene Gesichtsausdruck verrieten ihn.

„Über Denver aus Seattle – Ihrer Geburtsstadt, oder?“

Dorian blickte sie kurz an und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, die sie nach Westen außerhalb führte. „Sie haben bereits Unterlagen über diesen Fall erhalten?“ Er schüttelte leicht genervt den Kopf. „Worum geht es? Meine Bitten um Informationen werden seit Stunden strikt abgewiesen. Der Fall sei zu brisant.“

Mia wärmte sich die Hände an der Autoheizung. „Da muss ich Sie jetzt enttäuschen. Man riss mich mit der Auskunft, dass mein Flug in zwei Stunden ginge, aus dem Schlaf.“

„Und?“

Er nahm ein wenig vom Gas weg. Sicher wollte er vor dem Aussteigen des Rätsels Lösung hören. Mia hätte sich den Kommentar verkneifen sollen. „Ihr Akzent und Ihre grünen Augen in Zusammenhang mit Ihrem zweiten Vornamen Emerald.“

Dorian lachte herzhaft auf und bog in eine ausgeleuchtete Zufahrt. Er stoppte und ließ das Fenster hinunterfahren. Nach dem Eintippen eines Codes in ein Tastenfeld passierten sie mit einem Wink ein Pförtnerhäuschen und fuhren nach über zweihundert Metern Hangar in eine Tiefgarage. „Seattles Spitzname, die Smaragd-Stadt. Langsam weiß ich, weshalb man um dich so einen Wirbel macht“, sagte er und kontrollierte mit einem Seitenblick offensichtlich, ob das Abgleiten ins Du ihr negativ aufstieß. Er parkte neben anderen zivilen Fahrzeugen.

„Wir sind auf dem hiesigen Militärflugplatz der Luftstreitkräfte. Eigentlich Sperrgebiet.“

Dorian sah sie offen an. „Richtig, wir sind auf dem zur Verfügung gestellten Gelände der Francis E. Warren Air Force Base. Vielleicht will das Militär ein Auge auf unsere Ermittlungen haben. Wer weiß?“

Er umrundete den Porsche, um ihr die Tür zu öffnen, was er geschickt kaschierte, als sie bereits vor ihm stand. Seine Mundwinkel zuckten ertappt. Dorian versprühte seinen Charme derart unaufgesetzt und elegant, dass sie sich geschmeichelt fühlte. Mia mochte, wenn man das Seelenleben auf dem Gesicht offen zur Schau trug. Die meisten verwehrten ihren Gefühlen, sich auf ihre Gestik auszuweiten. Auch ihre Mimik gefror mit jedem brutalen Fall weiter ein. Sie sollte sich vor Dorians offener Art in Acht nehmen.

Ein Fahrstuhl brachte sie ein Stockwerk tiefer. Mia prägte sich den Türcode durch das leise Piepen ein. Sie straffte den Rücken und folgte Dorian bis ans Ende des langen Flurs. Ihre Absätze klapperten auf den hellen Bodenfliesen und die Neonbeleuchtung brannte ihr unangenehm in den Augen. Sie kam sich eher wie in einem Krankenhaus vor, auf dem Weg in die Pathologie statt zu einer Einsatzbesprechung. Der Gedanke an eine Klinik erinnerte sie wiederum an ihre Freundin Ivelina, die auf ihre E-Mail, dass sie nach so vielen Jahren zu Besuch kam, noch nicht geantwortet hatte.

Dorian klopfte an eine Stahltür und überließ ihr den Vortritt, als geöffnet wurde. Ihre Überraschung über den Raum ließ sie sich nicht anmerken und fokussierte ihre Aufmerksamkeit auf den Mann, der ihr mit ausgestreckter Hand und wissenden blaugrauen Augen gegenüberstand und mit seiner Präsenz alles andere für einen Atemzug in den Schatten stellte.

Seine charismatische Persönlichkeit veränderte die Atmosphäre und seine stattliche Größe unterstützte die vollkommene Anwesenheit, die er durch seine Körpersprache präsentierte. Hinter seiner Aura verbarg sich ein beeindruckender, alter Vampir. Sein Duft prägte sich unverfroren ein, natürlich herb, rassig. Wie ein nackter Adonis, an einen uralten Baumstamm gelehnt, nach einem warmen Sommerregen, eine heimliche Zigarette rauchend.

Mia blinzelte den Vergleich fort. Sein Händedruck rieselte ihr zu angenehm für einen Fremden durch den Körper, sodass ihre Sinne sogleich verrücktspielten, obwohl Mia sie noch wohlweislich hinter Verschluss hielt.

„Linus Dearing“, stellte er sich vor und nickte ihr zu, während er sie kaum spürbar am Ellbogen berührte und ins Zimmer zu einem braunen Ledersessel lotste.

Die fensterlose Räumlichkeit besaß die Eleganz eines dem 19. Jahrhundert entsprungenen Rauchsalons, in den sich die Herren nach dem Dinner zurückgezogen hatten, um bei Zigarre und Whiskey über Politik zu philosophieren. Nur durch einen Treppenabsatz getrennt standen im langen Bereich des l-förmigen Raums moderne Schreibtische und die neusten technischen Geräte. Eine ausrangierte Kommandozentrale des Militärs?

Vier Männer und sie befanden sich nun im Raum, davon ein Mensch.

Mr. Dearing setzte sich mit einem Oberschenkel auf eine Mahagonitischecke und ließ den Blick in der Runde schweifen. Seine Pupillen bohrten sich in ihr Inneres, als besäße er ihre Gabe. Das musste Einbildung sein, daraus entstanden, dass seine Nähe ihr Herzklopfen verursachte. Zumindest war sie noch keinem äquivalenten Exemplar wie sich begegnet und keinem hatte sie jemals offenbart, wie tief ihre Waffe tatsächlich vordrang. Mia verschloss sich tiefer, um dem Ansturm seiner und der Emotionen der anderen zu entkommen.

„Dann können wir beginnen.“ Seine tiefe, ruhige Stimme sorgte neben seinem offensichtlichen Rang dafür, dass absolute Stille eintrat. „Danke, dass Sie sich alle sofort auf den Weg hierher nach Cheyenne gemacht haben. Ich bin Linus Dearing, FBI Section Chief der BAU.“

Auch Mia unterstand der Behavioral Analysis Unit, der Verhaltensanalyseeinheit des US-amerikanischen FBI. Ihre Kollegen und sie von der Unit 3 wurden unter anderem gerufen, wenn es sich um brisante Fälle handelte.

„Ich mache Sie nur kurz miteinander bekannt. Erstens, weil ich hoffe, dass Sie sich rasch als Team zusammenfügen und viel besser kennenlernen werden, als ich Sie vorzustellen vermag. Und zweitens“, er tätigte eine effektheischende Pause, „weil ich inständig hoffe, dass dieser Fall so schnell wie möglich von Ihnen gelöst und damit alles Geplänkel überflüssig wird.“

Das kurzfristig auflebende Gemurmel verriet Mia, dass sie neben Linus und dem undurchsichtig dreinblickenden, bärtigen Gegenüber die Einzige im Raum zu sein schien, die durch ihre Spezialisierung argwöhnte, was sie erwartete.

„Gut. Ihr Unit Chief des Sonderkommandos ist Supervisory Special Agent Gabriel Blarson.“

Selten arbeitete Mia mit so vielen Vampiren zusammen, wenngleich sich einige in den oberen Rängen jeglichen Berufsfeldes tummelten und unter den Menschen lebten wie sie. Gabriels Herzschlag offenbarte Erregung. Mia konnte nicht umhin, festzustellen, dass der Antrieb Wut zu sein schien. Der Bartträger nickte allen kurz und stumm zu.

„Chief Blarson kam über die ESU des New York Police Department zur BAU und wird mit mir rund um die Uhr Ihr Ansprechpartner sein. Neben ihm sitzt Anthony Santa, zuständig für alle computertechnischen Fragen und Probleme. Er ist zusätzlich für die Ballistik verantwortlich.“

Anthony räusperte sich und senkte wieder den Kopf. Dieser sicher exzentrisch lebende Mensch gab Mia das Gefühl, sich noch auf der Erde zu befinden. Seine Finger klopften auf der Energiedrink-Dose herum, als flögen sie über eine Tastatur. Ihm behagte die Aufmerksamkeit sichtlich nicht. Mia lächelte ihm zu, und obwohl er nicht reagierte, spürte sie, dass er es bemerkt hatte.

„An der Stirnseite sitzt Special Agent Mia Smith, Fallanalytikerin der BAU, Unit 3, spezialisiert auf die Entführung von Kindern unter zehn Jahren mit politischem Hintergrund.“

„Hab ich’s doch geahnt.“ Dorian schlug sich aufs Knie. „Lasst uns endlich loslegen.“

Linus Dearing glitt ein Lächeln über das Gesicht. „Der Mann mit der Ahnung heißt Dorian Emerald Carther, ist Supervisory Special Agent und kommt vom S.W.A.T. Denver zu uns. Er ist für die Forensik zuständig und Spezialist für Entführungen.“

Mia sah Dorian an. Bei ihm schien sich das Gerücht zu bestätigen, dass die taktische Spezialeinheit zu einem Großteil aus Schürzenjägern bestand. Doch da er seine forsche Art für Gutes einsetzte, verbuchte sie dies als Pluspunkt.

„Nun denn, unsere Fachfrau für Linguistik, insbesondere in der Phonetik, Amalia de Sabatier, wird in den kommenden Stunden zu uns stoßen. Ihr Flug aus Frankreich dauert ein wenig länger.“ Linus öffnete einen Laptop, der bisher unauffällig neben ihm auf dem Tisch gelegen hatte, und drückte eine Taste. Auf der wandfüllenden weißen Leinwand hinter ihm erschien ein überlebensgroßer Junge mit weißblondem Wuschelhaar und strahlenden hellblauen Augen, die wohl jeden im Raum bannten.

„Der siebenjährige Benjamin O’Nalley, Sohn des Gouverneurs aus Wyoming, wurde heute früh zwischen 7:55 und 8:05 Uhr von Unbekannt entführt.“

Mia nahm jede Information begierig auf. Ihr Geist hatte sich von allein ein wenig geöffnet, als sie Benjamins Bild gesehen hatte. Er lächelte frech in die Kamera, fast, als spielte er Weglaufen vor dem Fotografen und freute sich jedes Mal, wenn es ihm glückte. Die Wangen zierte eine leicht rötliche Farbe. Er sah gesund aus, bescherte seinen Eltern sicher viel Freude, wenngleich er ohne Frage schwer zu bändigen war. Ein Mädchenschwarm im Teeniealter, ein Draufgänger oder Charmeur als junger Erwachsener und später gewiss ein Showmaster oder Schauspieler – überlebte er seine Entführung.

Mia stand auf und ging nach vorn, bis sie Gesicht vor Gesicht mit dem Jungen stand. Die Augen mit der schwarzen Umrandung zogen sie magisch an. Ein gieriger Wille, ihn lebend zu finden, ergriff sie. „Section Chief, wie können Sie sich so sicher sein, dass die Uhrzeiten stimmen, und wann können wir den Tatort besichtigen?“ Im Hintergrund tippte jemand auf einer Tastatur. Anthony.

„Benjamin übernachtete bei seinem Freund Michael Uhl. Mr. Carl Uhl brachte ihn am heutigen Morgen, 7:55 Uhr, bis zur Einfahrt des O’Nalley-Anwesens, da die Gouverneursfamilie zu einem mittäglichen Empfang außerhalb von Cheyenne geladen war. Fünf nach acht erkundigte sich Mutter O’Nalley bei Mrs. Uhl, wo ihr Sohn bliebe.“ Linus strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne nach hinten. „Dass in diesem Fall äußerste Verschwiegenheit an den Tag gelegt werden muss, brauche ich Ihnen alten Hasen nicht unter die Nase zu reiben. Dennoch hören Sie aus Carthers Ausruf, dass die Gerüchteküche bereits am Brodeln ist.“

Mia ging zurück, zog ihren Laptop aus der Ledertasche und schloss ihn an die Verkabelung eines Schreibtisches an, der halbrund wie eine gebogene Banane inmitten des höher gelegenen Raumes stand.

„Die Spurensicherung der örtlichen Polizei und Spezialisten von der Air Force Base haben heute Nachmittag mit der Arbeit vor Ort begonnen. Die Untersuchungen laufen auf Hochtouren. Alle Informationen bündeln sich hier in der Leitstelle. Sie können von Ihren Laptops darauf zugreifen. Jeder erhält von mir einen eigenen Zugriffscode. Machen Sie sich die nächsten“, Linus sah auf die Armbanduhr, „fünf Stunden mit dem Fall vertraut und finden Sie eine Mütze voll Schlaf. Wir treffen uns um sieben Uhr morgen früh vor dem Grundstück des Gouverneurs. Bis dahin hat mir die Leitung der Spurensicherung versprochen, den Tatort freizugeben.“

„Ich kann hier doch nicht rumsitzen und lesen, während der Kleine in Lebensgefahr schwebt.“ Dorian schritt auf und ab, bis sich Gabriel ihm in den Weg stellte.

„Dorian, der Fall ist umfangreich.“ Seine raue Stimme mit dem breiten New Yorker Akzent klang wie Schüsse durch einen Schalldämpfer, kurz, dumpf, präzise. „Komplizierter, als du denkst. Ihr alle erhaltet ein Handy. Falls sich eine Spur findet, werdet Ihr informiert. Solange es nicht piept, klemmst du deinen Schwanz ein und liest. Falls du nicht ruhen willst, besorge Kaffee. Hast du Hummeln im Hintern, schaffe Informationen heran, aber die Spurensicherung hat alles abgeriegelt. Wir behindern sie nur. Außerdem klappern fünfzig freiwillige Polizisten seit heute Morgen die Umgebung ab. Nothing. Du wirst früh genug auf den Bösen losgelassen.“

„Gibt es schon eine Forderung?“

Linus wandte sich Mia zu. „Nein. Bisher ist nichts gefunden worden. Das Haus ist verkabelt, Wachposten vor Ort.“

„Verdächtige?“, drang Anthonys Frage leise hinter seinem Terminal hervor, an das er seinen Laptop mit einer Sechs-Monitorwand verkabelte. Seine Stimmlage klang für einen Mann seiner Statur recht hoch.

„Einige“, sagte Gabriel und bestätigte Mias Allgemeinwissen über den republikanischen Staats- und Regierungschef von Wyoming. „Er hat sich mit scharfen Gesetzesvorschlägen gegen Verbrechen, der Energiesparpolitik und dem Offenlegen der Managergehälter nicht nur Freunde gemacht. Er gilt als sehr volksnah und scheut den Ärger mit Lobbyisten nicht. Er ist gegen Schwule, für günstigere Child Day Care Center, für die Förderung der Methangasgewinnung und eine Steuererhöhung, um das Sozialsystem zu stärken. Es schränkt die Suche kaum ein. Alles im Infopool zu finden.“

Gabriel legte jedem besagtes Smartphone vor die Nase. Bei Mia blieb er stehen, bis sie an seiner dunkelblauen Windjacke mit dem gelben FBI-Aufdruck aufblickte. Sie hatte sich bereits in die Recherche in den Archiven über Gouverneur Sean O’Nalley vertieft.

„Über dich hört man nur das Beste.“ Aus seinem Mund klang es wie eine Drohung. Mia setzte ein Lächeln auf und studierte seine Mimik, die er mit der glatten Haut eines Vampirs gut zu verbergen vermochte. „Ich hoffe, dass du deine Quote hältst.“

Er spielte darauf an, dass sie in ihrer Laufbahn jeden aufgespürt hatte, auf den sie als Profiler angesetzt worden war. Seine aufgesetzte Grobschlächtigkeit schien aus Eifersucht oder gar Neid zu resultieren, gleichzeitig verriet seine Unruhe seine Besorgnis um den Jungen. Für Mia zählte allein eine Statistik – die der lebend gefundenen Kinder. Leider offenbarte diese, trotz ihrer Erfolge, dass sie dem Übel oft hinterherliefen.

„Wir finden den Kleinen und verhindern eine politische Bloßstellung. Ich werde Sie dabei mit allem unterstützen.“

Ihre Worte linderten wie Balsam sein Gemüt, wie sie wie selbstverständlich durch ihre Empathie wahrnahm. Gabriel brummte zustimmend und ging in das einzige, separate Büro. Die Tür ließ er offen.

Mia wandte sich ihrem Monitor zu. Fürchte dich nicht, dachte sie an den Erzengel Gabriel. Sie konnte es bereits bildlich vor sich sehen, wie er Benjamins Auffinden verkündete. Der Unit Chief schien kein so raubeiniger Kerl zu sein, wie der erste Anschein vermuten ließ, und hauptsächlich an der Lösung des Falls interessiert, auch wenn er ein offensichtliches Problem mit ihrer Gegenwart hatte. Wie so viele Männer vom FBI.

„Ich bin froh, dass Sie Ihren Urlaub verschieben konnten.“

Linus’ Baritonstimme holte sie wieder aus ihren Überlegungen. Seine Nähe verursachte ihr einen sanften Schauder, der ihr über die Arme strich, sodass sich ihre Härchen aufrichteten. Mia klappte den Laptop zu, stürmischer, als sie beabsichtigt hatte. Sie wollte sich auf den Fall konzentrieren und war es gewohnt, allein durch ihr Auftreten in Ruhe gelassen zu werden. Sie besaß die Fähigkeit, ihre Umgebung, die Geräuschkulisse auszublenden, um sich in den Täter hineinzuversetzen. Sprach man sie allerdings an, verpuffte die Verbindung. Keiner ahnte, wie schwer es ihr fiel, sich immer und immer wieder auf ein komplexes, oft pädophiles oder nekrophiles Gehirn einzulassen, sich zu fühlen, als wäre sie das Monstrum, das pervers auf Kinder und Leichen abfuhr. Leider stieß sie in jedem dritten oder vierten Fall auf einen Straftäter mit abnormen paraphilen Neigungen, die dieser dazu benutzte, die politischen Forderungen zu untermauern.

Sie lächelte und stand auf. „Das mache ich sehr gern. Ich nutze die Gelegenheit und ziehe mich zurück.“

Sein zurückhaltendes Lächeln stieß ihren Vorsatz beinahe über Bord. „Natürlich. Gerade erst den Fall in Seattle abgeschlossen, der Flug und …“

„Ich meinte nicht zum Schlafen“, unterbrach sie ihn und schlüpfte in ihren Mantel, „sondern zum Arbeiten.“

„Sicher. Hier ist Ihr Sicherheitscode, um auf die Daten zugreifen zu können. Prägen Sie ihn sich ein. Nur Sie und ich kennen ihn. Ich werde morgen früh nicht dabei sein. Chief Blarson hat das Kommando.“

Das Bedauern in seiner Stimme empfand Mia als spürbar. Andere hätten es bestimmt nicht wahrgenommen. Außerdem war es überflüssig, dass er die Gegebenheiten wiederholte. Sie packte die Taschen und verschloss ihren momentan überempfindlichen Geist. Seine Reaktion ließ sich schlüssig erklären. Linus Dearing wollte selbst den Bösen ergreifen oder das Adrenalin spüren, wenn sie ihm an den Fersen klebten, oder er benötigte einen erfolgreich abgeschlossenen Fall, um die Karriereleiter hinaufzuklettern. Blieb irgendwann ein wenig Zeit übrig, würde sie ihn unter die Lupe nehmen, um zu erfahren, was ihn umtrieb.

„Danke.“ Mia warf einen Blick auf die lange Zahlen-, Buchstaben- und Sonderzeichenkombination, zerknitterte den Zettel und gab ihn zurück. „Würden Sie ihn für mich verbrennen? Ich rauche nicht.“

Mia ging ein paar Schritte, drehte sich aber nochmals um. Sie hasste sich dafür, dass sie ruppig reagierte, wenn ihr jemand zu nahetrat, den sie nicht einzuschätzen vermochte, oder nett zu ihr war, ohne dass ihr Verstand den Grund dafür lokalisieren konnte. Ihre Gabe war eben Segen wie Fluch. Gleichzeitig wollte sie auch nicht jeden bis ins verborgenste Hinterstübchen durchleuchten, denn keiner lebte ohne Fehl und Tadel, und jeder besaß das Recht auf ein eigenbestimmtes Leben sowie auf Geheimnisse. Sie sah natürlich nicht, was ihr Gegenüber verheimlichte oder verdrängte, doch sie empfing empathische Schwingungen, falls sie dies wollte, die sie gelernt hatte, zu lesen. „Ich wünsche Ihnen einen guten Flug und wäre froh, Sie spätestens zum hoffentlich glücklichen Abschluss des Falls wiederzusehen. Danke für Ihr Vertrauen.“

Mia verabschiedete sich in den Raum hinein und blieb bei Dorian stehen, als er mit ernster Miene von den Daten aufblickte. „Schon siebzehn Stunden …“

Mia legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und nickte. „Aus politischen Gründen entführte Kinder haben eine höhere Chance, die ersten Stunden, gar Tage zu überleben, da die Durchsetzung eines Gesetzes oder die Freilassung von Straftätern oder das Öffentlichmachen eines vom Politiker getätigten, unter den Teppich gekehrten Skandals meist in mehreren Schritten vollzogen werden muss und die Verhandlungen sich ohne ein Lebenszeichen verkomplizieren.“

„Du musst mir keinen Mut machen. Ich hasse es nur, rumzusitzen. Wohin willst du?“

„Bleibst du hier?“

„Frage, Gegenfrage.“ Er verdrehte die Augen. „Ja. Was soll ich im rosafarbenen Fairfield Inn? Du gehst?“

„Ja, ich muss mir noch ein Zimmer besorgen.“

Dorian griff in die rechte Tasche seiner Lederjacke, die über der Sofarückenlehne hing. „Hier. Aber keinen Kratzer.“

Mia nahm lächelnd den Schlüssel entgegen. Da sieh mal einer mal an. Sie hätte vermutet, dass er eine innige Liebesbeziehung zu seinem Porsche pflegte und niemand anderen ans Steuer ließ. Aber welchem Vampir passierte schon ein Unfall? Ihre Reflexe waren jedem Menschen überlegen. Sie ging schon Richtung Ausgang. „Danke. Ich hole dich um halb sieben hier ab und bringe als Dank Frühstück mit.“

„Hey!“

Mia drehte sich an der Tür um. Hatte sie etwas missdeutet?

„Das am nächsten gelegene Hotel liegt am Dell Range Boulevard, über dem Flughafen.“

„Deins, nehme ich an.“

Sein Mundwinkelzucken verriet ihn wieder.

„Danke.“

„Und der Code für den Lift …“

„Düt, düt, düt, düt, düt, düt“, ahmte Mia den sechsstelligen Sicherheitscode nach und schmunzelte über Dorians Gesicht.

„O Mann, dein Verstand macht mir Angst.“ Er zwinkerte ihr zu und vertiefte sich sogleich wieder in die Daten, die sein Monitor anzeigte.

 

Mia bog von der Hauptstraße ab und blieb mit Warnblinklicht am Seitenrand stehen. Ohne den Navigator zu bemühen, hatte die Erinnerung sie bis zum Südende von Cheyenne in die ruhige Wohngegend nach South Greeley geführt. Sie klappte den Laptop auf dem Beifahrersitz auf und öffnete das E-Mail-Programm. Ihr Job beim FBI garantierte ihr von jedem Fleckchen der Erde aus einen Internetzugang. Neun Nachrichten, eine von Ivelina:

Wohne immer noch in unserem Haus. Habe Tagschicht, warte und freue mich irrsinnig auf dich! Ive

Ein Lächeln legte sich auf Mias Lippen, während sie langsam durch die nachtschlafende Siedlung fuhr und vor dem dritten Haus der zweiten Querstraße parkte. Es war lange her und doch alles vertraut. So geborgen und sicher hatte sie sich seitdem nirgends gefühlt. Sie atmete tief durch und schalt sich eine Närrin. Das Gefühl lag vornehmlich daran, dass sie damals von nichts eine Ahnung gehabt hatte, außer dass sie ein Vampir war.

Im Gegensatz zu jetzt.

Obwohl … obwohl da immer noch etwas in ihrem Inneren zu schlummern schien, dass sie niemals zu fassen bekam. Nicht einmal in dem Traum, der sie seither verfolgte. Ein Kuss auf die Stirn, der alles veränderte. Zum Bösen.

Ihre Gabe schien sie zu verhöhnen. Sie konnte alles und jeden ziemlich treffsicher analysieren, doch bei sich selbst scheiterte sie, egal, wie oft sie es versuchte.

...