Sklave des Blutes

Night Sky 1

Band 1 der Trilogie "Night Sky"

Leseproben:


Hörbuch-Hörprobe: Sklave des Blutes - Hörbuch

Jonas Baker hasste es, die Kontrolle zu verlieren.
Er hatte es zu weit getrieben, zu lange die Wälder nicht verlassen und sah sich jetzt gezwungen, seiner Gier nach Blut bei menschlichem Abschaum zu frönen. Zumindest war der korrupte Politiker, auf den er es abgesehen hatte, äußerlich sauber, wenn schon sein Lebenssaft bitter schmeckte.
Er sog die kühle Nachtluft ein, überprüfte den Außenbereich der Luxushotelanlage und ließ sich geschmeidig von einem hohen Baum gleiten. Lautlos huschte er zu einer Steinmauer, erklomm sie mühelos, übersprang einen unter Strom stehenden Stacheldraht sowie eine Sichtschutzpalisade. Er sah bestätigt, was er längst wusste. Alle Spabesucher hatten die dampfenden Wasserbecken zum Dinner verlassen – bis auf seine Beute. Sein Körper brannte vor Verlangen, der Geruch des Blutes hebelte seine Beherrschung aus. Schmerzhaft schossen seine Reißzähne aus dem Kiefer, während er die Distanz zu dem Whirlpool in ungeheurer Geschwindigkeit überwand. Aus dem Augenwinkel bemerkte er unversehens eine Gestalt, die aus dem Gebäude kam. Ihr zuckersüßer Duft stieg ihm in die Nase und ihr nackter Leib schürte seine Lüsternheit, versetzte sein Blut schlagartig in Wallung, ließ die heißen Triebe überkochen. Es war zu spät, die Gier zu mächtig, um sie zu bezwingen.
Er sprang mit einem Satz auf die Frau zu, riss sie mit sich zu seinem eigentlichen Ziel ins Wasser, packte den Mann und sie an den Kehlen und tauchte mit ihnen unter. Es kostete ihn keine Mühe, beide Personen zu kontrollieren. Er zog den Mann unnachgiebig heran und versenkte die Fänge in seiner pochenden Halsschlagader, während er die zappelnde Frau an die Whirlpoolwand drückte – darauf bedacht, sie nicht zu strangulieren.Blut schoss ihm warm in den Mund, er saugte mit tiefen Zügen, nicht nur, um die Sucht rasch zu stillen. Er durfte der Verlockung des sogar unter Wasser unwiderstehlich duftenden weiblichen Elixiers keinesfalls erliegen. Niemals wieder.
Kurz nach dem Biss glitt sein Opfer in einen willenlosen Rausch, hing schlaff in seinem Arm und sein Lebenssaft schenkte ihm Kraft. Die sich permanent wehrende Frau bekam Atemnot. Jonas tauchte auf. Sie hätte nicht dabei sein sollen. Er versiegelte die Bisswunde mit seinem Speichel. Ein befriedigtes Knurren entrang sich seinem Inneren, Stärke pulsierte durch seine Adern wie Feuer. Er legte der nach Atem ringenden Frau zwei Finger an die Schläfe, nahm ihr die Erinnerung an die zurückliegenden Minuten und wiederholte die Prozedur bei dem Politiker.
„Es ist nichts geschehen, alles ist gut.“
Am liebsten hätte er dem Kerl ein Gewissen eingepflanzt, doch wer war er, dass er richten durfte? Mörder gehörten bestraft – vom Gesetz.
Würde ihn die Blutgier nicht in die Zivilisation zwingen, hätte er nie wieder einen Schritt in eine Stadt, ein Dorf oder ein Haus getan. Nicht ohne Grund hatte er vor hundert Jahren seiner Familie den Rücken gekehrt. Sich zu Einsamkeit verurteilt.
Jonas richtete sich auf, katapultierte sich aus dem Whirlpool und schüttelte das Wasser von seiner Lederkleidung. Ein letzter Blick, ob die beiden munter waren, da erstarrte er in der Fluchtbewegung. Auf der Wasseroberfläche dümpelte die USA Today vom 3. März 2011. Eine Schlagzeile bohrte sich tief in sein Herz, bevor das Blatt unterging.
„Diandro Baker, Milliardär und Eigentümer des weltweiten Baker Pharmakonzerns in San Francisco auf mysteriöse Weise gestorben“

*

Ein strahlendes Blauorange erhellte den Himmel hinter den Bergen und die Skyline San Franciscos zeichnete sich schwarz am Horizont ab. Nach und nach schob sich der orangerote Glutball empor, setzte die erwachende Stadt mit Alcatraz und der Golden Gate Bridge zu ihren Füßen in Brand. Der gleißende Schein schien Jonas in seiner Trauer Lügen strafen zu wollen. Das Licht überwand unaufhaltsam die Baumspitzen, berührte die gepflegten Grabmale, die wie Gargoyles steinern über sie wachten und die Trauergesellschaft umstanden.
In gleichem Maße, wie sich Jonas der Nacht zugeneigt fühlte, hatte Diandro Baker die Morgendämmerung geliebt. Es gab keine geeignetere Tageszeit, um ihn würdevoll beizusetzen. Jonas’ Atem kondensierte zu Dunstwölkchen und anstelle des offenen Grabes sah er Dads Gesicht vor sich, wutverzerrt, mit erhobener Faust. Er streckte die unwillkürlich ebenso geballten Hände in den Manteltaschen.
Sein Blick streifte Sitara. Äußerlich gefasst folgte Mom den Worten des Geistlichen, stand aufrecht wie allzeit in ihrem Leben. Zu ihrer Linken überragte sein Bruder sie um Kopflänge. Seit hundert Jahren hatte Jonas seine Verwandtschaft nicht gesehen. Er hätte nicht zur Beerdigung kommen dürfen, die hohen Kreise der Familie weiter meiden sollen. Stets hatte er ihr nur Unheil gebracht. Er schluckte die Wut über sich hinunter, den Sarkophag im Visier. Nie hatte er eine Chance wahrgenommen, seinem Dad zu sagen, dass es ihm leidtat, dass er ihn liebte. Was würde er dafür geben, dass er und nicht Diandro in dem Sarg läge?
Kurzzeitig schloss Jonas die Augen, versuchte, die Gefühle abzuschütteln, mit der seine ungewohnte Begabung ihn gerade jetzt auf grausamste Art folterte. Mit dem Tod seines Vaters war eine Fähigkeit auf ihn übergegangen, von der er nichts gewusst hatte.
Vor der Abreise aus Russland hatte er mit Entsetzen festgestellt, dass fremde Emotionen ihn überfluteten. Inmitten der über 300 Trauergäste glich das einer Bestrafung. Die meisten waren Menschen, zwei Schattenwandler, die bei Tage harmlos anmuteten und oft von Begräbnissen angezogen ungebeten auftauchten, ein paar Werwölfe, Vampire und … drei Gestaltwandler – eine Frau mit ihren Kindern. Jonas brauchte sich nicht zu rühren, um die hochmagischen Wesen in seinem Rücken zu identifizieren, sie schirmten ihre Identität nicht ab. Er empfing Melancholie und Verzweiflung. Die Gestaltwandlerin hatte Diandro gekannt, fühlte sich ihm vielleicht verbundener als sein eigener Sohn. Er schluckte schwer an der Erkenntnis. Warum standen die drei in ihrer wahren Gestalt auf dem Friedhof und bezeugten Anteilnahme? In seinem langen Leben war er erst einem dieser Art begegnet, bei der Schlacht auf dem Eriesee 1813 und hatte sich geschworen, dieser undurchdringlichen Spezies aus dem Weg zu gehen. Ihre Verwandlungskünste, ihre Macht im medialen Zweikampf, waren gefürchtet. Mit einem Gedanken konnten sie ein Gehirn manipulieren oder in ein Gefühlschaos schicken. Gestaltwandler waren selten, hielten sich für etwas Besseres und gaben sich nicht mit niederen Wesen ab.
Die Trauerrede endete mit einem leise ausklingenden Amen und seine in Schwarz gehüllte Mom sank auf die Knie. Undenkbar, dass Sitara, königlich im Blute, sich ins feuchte Gras niederließ, aber sie tat es. Ein Raunen floss durch die Gäste. Jonas wollte sich zu ihr beugen, ihr auf die Beine helfen, da hob sie den Schleier und ihre Handflächen berührten die Sonnenstrahlen. Mit ihrer glasklaren, durchdringenden Stimme begann Sitara, zu singen. Wenngleich jede Strophe an Diandro gerichtet, rührte sie Jonas’ Herz, durchdrang seine Seele, obwohl er kein Wort des alten indianischen Liedes verstand. All sein Wissen, seine Macht, brachte ihn nicht weiter. Keine der Sprachen, die er beherrschte, vermochte Sitaras Worte zu verstehen. Er lauschte Moms hellem Gesang, hörte die letzten boshaften Flüche, die er Dad entgegengeschleudert hatte, als Jonas fortging, fort musste, sie alle zurückließ. Sein Herz zersprang, Tränen rollten über sein erhitztes Gesicht.
Warum? Wie? Welches Geschöpf barg die Überlegenheit, um Diandro Baker, einen Fels in der Brandung und vom edlen Blute der Azteken, zu töten?
Sein brennender Blick traf auf Alexander. Der erste Augenkontakt seit hundert Jahren, den Jonas schnell unterband. Der Ausdruck seines Bruders blieb verstockt und distinguiert wie eh und je, durchtränkt von Hass wie eine Seuche.
Plötzlich durchflutete Jonas ein Glücksgefühl, erhellte seine düsteren Gedanken, ließ ihn vor Wohlbehagen aufseufzen. Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und drehte sich zu der Gestaltwandlerin um, die ihm diese Empfindung schenkte, aber sah nur drei Tauben, die davonflatterten. Gleichzeitig verklang das traurige Lied.
Jonas half Sitara aufzustehen, hielt ihren Arm als Geste der Verbundenheit, spürte erneut das zerreißende Leid in ihrem Inneren, sah die wässrigen Augen und legte ihr den Schleier vor das Gesicht. Er wandte sich dem Sarg zu. Mit dem Dorn einer Rose stach er tief in seine Fingerkuppe, küsste Blut und Rosenkopf und ließ sie mit einem Versprechen dumpf auf den Deckel fallen.
„Ich werde deinen Tod rächen, Dad.“

*

Es gibt Menschen und Wesen – und mich.
Was es nicht gibt, ist schwarz und weiß. Alles, was uns umgibt, was wir sind, besteht aus Schattierungen von Grau. Gut und Böse sind nichts weiter als tief verwurzeltes Wunschdenken, eine Scheinwahrheit. Ich denke, ich bin inzwischen dunkelgrau, ziemlich dunkel, wenn du verstehst, was ich meine. Das war nicht immer so. Aber keiner kann von mir verlangen, dass ich die Füße stillhalte – im übertragenen Sinn – obwohl ich verflucht bin, ohne Körper zu existieren. Glaube mir, ich habe diesen körperlosen Zustand so satt! Stell dir vor, du müsstest Tausende von Jahren ohne Hülle leben – grausam. Und jetzt stell dir vor, du wärst auch noch gezwungen, von einer zur nächsten zu springen, dich tief einzunisten, um die Gedanken desjenigen zu durchforsten, nach der einen Frau zu graben, die dein vergreister Boss sucht. Hätte ich mich bloß nicht auf diesen stumpfsinnigen Deal eingelassen. Das sind nämlich nicht nur wunderschöne Astralkörper, in denen ich da lande. Oh nein, das sind fettwänstige Bratwurstvertilger, spindeldürre Modelskelette und stinkende Müllfresser. Mir graust es jedes Mal, wenn es Zeit wird, den alten Körper zu verlassen. Man weiß eben nie, worin man als Nächstes festsitzt.
Ab und zu gefällt es mir richtig gut. Den Geschlechtsverkehr zwischen Partnern, Eheleuten oder verheirateten Schwulen kannst du vergessen, ist nicht erwähnenswert oder nicht vorhanden. Aber letztens hauste ich in einem blutjungen Cheerleader Girlie.
Sie befand sich auf der Entdeckungstour ihres Leibes, als ich hineinschneite und, na ja, ich half ein wenig nach. Man will ja auch als Dämon Spaß haben. Wer arbeitet schließlich tagein, tagaus, seit rund 650 Jahren? Und hat man erst mal damit angefangen, wird man süchtig. Frag doch die jungen Männer, da läuft das meist von allein wie geschmiert.
Wo war ich? Genau, was ich eigentlich erzählen wollte, ist, dass ich endlich eine Möglichkeit fand, mir einen richtig tollen Leib zu verschaffen. Dabei wäre mir ein weiblicher Körper am liebsten. Warum? Nicht, was du denkst. Dämonen sind von Natur aus immer weiblich. Also, ich klapperte schon lange Korpusse im Auftrag meines Chefs ab und suchte nebenbei einen, in dem ich bleiben konnte. Wer benötigt kein Zuhause, wo er sich wohlfühlt?
Es ist unfair, körperlos zu sein. Ich kann dir nicht einmal sagen, wie verdammt lecker ich aussehe. Das ist ziemlich unbefriedigend, wenn man ein bisschen angeben will, denn dass ich eine irre gute Figur mache, steht außer Frage. Einen Namen braucht man auch. Ich habe keinen, es hielt wohl niemand für nötig, mir einen zu geben. Ich wäre sogar mit extravaganten Exoten wie Daimon, Iblis, Belial oder superintellektuell, Diabolos zufrieden, aber nö, dieser Dämon brauchte keinen. Deshalb habe ich mich Lilith genannt. Das darfst du ebenfalls tun. Li-lith, ganz easy. Kannst du ja googeln, falls du nicht weißt, an wen ich mich da anlehne. Allerdings ist die Kopie meist besser als das Original.
Nachdem ich mich schon einmal für meinen Nerven strapazierenden Chef auf der Erde befand, um eigentlich für ihn zu arbeiten – verpetz mich und ich finde dich – fand ich in dem Körper nach der Cheerleaderin das, was ich seit Jahrhunderten suchte: eine unfassbar gewaltige Macht, die mir zu meiner eigenen Hülle verhelfen würde. Ich muss sie mir nur unter den Nagel reißen. Kein Problem für eine so tolle Dämonin wie mich.
Dann passierte mir ein klitzekleines Missgeschick, kaum der Rede wert, das jedoch die Grauschattierung meiner Gesinnung weiter verdunkelte.