Traumkind - Efil 1

 

Leseprobe:

 

Kapitel 6 – schicksalhafter Absturz

Efil – Evol 6360 s. E.

 

Dieses Mal war etwas anders.

Johannah erkannte die Gegend aus der Luft – sie flog wieder, so weit normal. Doch sie schmiegte sich nicht in das flauschige Federkleid eines Adlers, sondern sie hing an der Hand einer Frau. Der Frau, die sie in letzter Zeit immer öfter in ihren Träumen zu Gesicht bekommen hatte. Da Johannah keinerlei Angst verspürte, knapp unter den Wolken dahinzusausen, reckte sie ihren Hals, damit sie die Frau endlich einmal von Nahem betrachten konnte.

Vor dem dunkelblauen Sternenzelt zeichnete sich ihre Elfenbeinhaut ab wie bei einer Porzellanpuppe. Ihr langes, im Wind flatterndes Bronzehaar brillierte wie Samt und ihr zartes Lächeln schien wie Quellwasser zu Johannah herüberzufließen. Ein Duft wie atmender Rasen nach einem Sommerregen, fast sichtbar in der Nachtluft, hüllte sie ein. Nichts an dieser Frau war auffällig, und doch war sie die bezauberndste Person, die Johannah je gesehen hatte.

Auch wenn sie beide nichts sagten, fühlte sich Johannah bei ihr wohl, ja sogar geborgen. Sicher, wie auf dem Schoß der eigenen Mutter.

Johannah seufzte. Dieser Traum sollte nie zu Ende gehen.

Da! Die Frau sah sie mit ihren grünen Augen an und öffnete den Mund. Sicherlich wollte sie ihr nun erzählen, wer sie war. Stattdessen spürte Johannah, wie sich der Griff der Frau lockerte. Panik erfasste sie. Reflexartig versuchte sie, nachzugreifen, doch die Frau streckte ihre zarte Hand nun aus – Johannah rutschte.

„Ich werde immer bei dir sein!“

Johannah fiel.

Sie kreischte, ruderte mit Armen und Beinen, doch keine Mama, kein Adler und kein Bett fingen sie auf. Der im silbrigen Schein des Mondes liegende Waldboden raste auf sie zu.

Johannah schrie, schrie um ihr Leben. Der Wind zerrte an ihrem Nachthemd. Sie erblickte eine hügelige Wiese, schlug im nächsten Moment auf, doch der Boden war nicht hart, sondern gab nach. Ihre Füße bohrten sich durch die Grasnarbe, ein Schlot verschluckte sie, Erde erstickte ihren Schrei.

Unzählige Äste, Steinchen und Sand kratzten an ihrem Körper entlang, Schmerzen überall, dann wurde der Schacht breiter, ihr Fall schneller. Mit einem Krachen landete sie brutal auf einem Gitter. Sekundenlang spürte sie nichts.

Tot?

Nein.

Johannah fühlte sich, als wäre sie unter eine Planierraupe geraten, schlimmer noch, als wäre sie gerade wirklich fünf Kilometer aus dem Himmel gefallen. Sie lag zusammengepfercht in einem engen Schacht. Stäbe drückten ihr in den wunden Rücken. Alles tat ihr weh. Blöder Traum!

Vorsichtig reckte sie den Hals, streckte den Nacken. Es knackte, aber alles schien heile. Wie hatte sie diesen Sturz überleben können? Sie träumte sicher nur …

Johannah öffnete die Augen. Das hätte sie lieber nicht getan, denn es brannte sofort wie Färbemittel in einer offenen Wunde. Außerdem war alles schwarz. Vor Schmerz und Schreck schnappte sie nach Luft, die jedoch wie Kohlebrocken im Hals stecken blieb, und fing sie an zu husten. Panik ergriff sie. Ihr fehlte Luft, einfach nur Luft.

Jemand packte sie an den Handgelenken und zog sie mit einem Ruck auf die wackligen Beine. Sie tat einige wankende Schritte vorwärts und knallte mit den Knien auf den Boden. Keuchend beugte sich Johannah vor. Ihr war schlecht. Sie hustete, würgte, bekam etwas Rundes in die Hand gedrückt und übergab sich da hinein.

Nach einigen Minuten ging es ihr besser. Dankbar nahm sie ein feuchtes Tuch und ein Glas Wasser entgegen, das sie gierig austrank. Mit dem Lappen wischte sie sich behutsam über die Augenlider und blinzelte.

Sie sah braunes Fell.

Nochmals putzte sie die brennende Gesichtspartie sauber, doch das Bild blieb. Das braune Fell bewegte sich ein wenig nach hinten.

Zutiefst erschrocken zuckte Johannah zurück, stolperte über irgendetwas und plumpste auf den Hintern. Sie schluckte. Am liebsten hätte sie aus Leibeskräften nach Mama geschrien, doch das wäre ja nun mehr als sinnlos gewesen.

„Nun mach der Kleinen doch nicht solche Angst!“

Johannah sprang auf und wirbelte herum. Sie schwankte und ihr Blick war immer noch arg getrübt, doch im matten Lichtschein konnte sie einen grünen flauschigen Teppich erkennen. Darauf stand ein Holzstühlchen, von dem zwei fluffige Pfoten hinunterbaumelten. Davor lag ein Paar Pantoffeln - einer rot und einer grün. Ein braunhaariger Körper mit einem weißen Bauch, zwei Ärmchen, die sich davor verschränkten, ein Hals und ein ziemlich schräg gelegter Hasenkopf. Die langen Ohren hingen geknickt zur Seite.

„Ich dachte, sie wäre größer.“

Johannahs Herz pochte wild. Träumte sie noch? War sie auf den Kopf gefallen?

Der Hase grinste breit. Mit einem Satz schlüpfte er in die bunten Puschen, machte einen Hops auf sie zu und umarmte kräftig ihre Hüften.

Johannah war starr vor Schreck. Ihr passierte zwar nichts und das flauschige Fell fühlte sich warm und angenehm durch ihr Nachthemd an, doch war sie noch ganz dicht?

Der Hase ließ sie los. „Ich bin Lele. Schön, dass du endlich da bist“, sagte er enthusiastisch und streckte ihr eine Pfote hin.

Johannah machte riesige Augen, bekam aber kein Wort hinaus. Stattdessen hustete sie. Wo war sie nur? War sie wirklich gerade vom Himmel gefallen?

Johannah strich sich nochmals über die verrußten Augen, sah dabei ihre mit Asche befleckten Hände und ihr ursprünglich hellrosa Nachthemd an. Mit einem Kloß im Hals starrte sie auf den Hasen. Gefährlich wirkte er nicht gerade. Seine Nickelbrille war ihm weit nach vorn auf die Stupsnase gerutscht. Vielleicht, weil sie so dreckig war und er drübergucken musste. Offensichtlich fiel es dem Hasen immer schwerer, so breit zu grinsen. Seine Schnurrhaare fingen leicht an zu vibrieren. Okay, dachte sie bei sich, es gibt nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob ich träume oder nicht. Sie streckte den Arm aus.

Der Hase griff blitzschnell zu und schüttelte ihre Hand so kräftig, dass Johannah das Gefühl hatte, auf und ab zu hüpfen.

„Wusste doch, dass unser kleiner Mensch mutig ist.“ Wie zur Bestätigung seiner Worte stellten sich seine Ohren ganz auf und sein Grinsen war wieder perfekt.

Johannah schluckte abermals. Dieser Lele konnte damit nicht wirklich sie meinen. Sie war alles andere als mutig! Dennoch fühlte sie weiterhin samtweiches, warmes Fell in ihrer Handfläche. In der Mitte schien etwas Filz zu sein, aber außen herum kitzelten sie lange Härchen. Eigentlich wollte sie nur weglaufen, denn es war anscheinend kein Traum. Schließlich konnte sie den Hasen nicht nur sehen, sondern auch spüren. Doch sein Gesichtsausdruck war so ansteckend, dass sie nicht anders konnte, sie lächelte verschämt zurück.

„Wie heißt denn du?“, fragte eine tiefe Stimme in ihrem Rücken, die klang, als würde sie aus einem tiefen Tunnel herauskommen.

Da wurde sich Johannah gewahr, was sie eben auf der anderen Seite – also hinter sich – gesehen hatte. Wieder wirbelte sie herum. Angst lähmte sie, als das Etwas da immer noch stand und sie fragend anschaute.

Das riesige Tier sah aus wie eine Mischung aus einem Drachen mit braunem Fell und einem aufrecht stehenden Bären mit dickem Schwanz. Asche bedeckte den ganzen Körper. Wieso sprach so ein Fabelwesen, das sie nicht aus ihren Büchern kannte, überhaupt ihre Sprache? Wieso sprach es überhaupt? „Johannah“, wisperte sie, hätte sich aber am liebsten auf den Boden geworfen, die Hände auf die Ohren gepresst und gehofft, bald aufzuwachen.

Der Hase hüpfte um sie herum und gesellte sich zu dem mindestens fünfmal so großen … hm … Bärendrachen. „Gut, dann werden wir dich Jo nennen!“

Johannah machte wieder große Augen. „Aber … ich heiße doch Johannah. Mit zwei hö!“

„Jo-hö-hö-anna“, versuchte sich der Große. Dabei fiel ihm etwas Ruß vom Schopf.

„Ach, papperlapapp! Jo ist viel, viel passender für ein so mutiges Mädchen, wie du es bist. Du bist doch ein Menschen-Mädchen, oder?“

Leles Stimme klang nicht, als würde er daran zweifeln. Eher so, als würde er ganz sichergehen wollen. Kannte er Menschen nun, oder nicht? Johannah schaute sich sicherheitshalber kurz um, ob er auch sie meinte. Sie ließ ihren Blick durch den eiförmigen Raum gleiten, in dem sie gelandet war. Es gab keine Fenster und Türen, aber eine große Standuhr, die zwischen Boden und Decke eingeklemmt war. An den Wänden, die aus Erde zu sein schienen, reihten sich Regale vollgestopft mit Pergamentrollen und Büchern aneinander. Ein Stehpult, auf dem ein Federkiel und einige Zettel lagen, lehnte sich an einen geschickt aufgeschichteten Stapel Feuerholz. Daneben der Kamin und das verbeulte Grillrost. All das war getaucht in ein unruhiges, warmes Licht und überdeckt mit Ruß. Sie sah dem Hasen peinlich berührt ins Gesicht. Schließlich hatte sie diese Sauerei verursacht, indem sie – wie auch immer – in sein Kamin gestürzt war. Das leicht rosa Näschen schnupperte. Er schien nicht böse zu sein. Der Hase war cool, wie einige aus ihrer Klasse sagen würden, und der Name Jo war klasse, so … so cool halt. „Ja, ich denke schon, dass ich ein Mensch bin“, sagte sie. „Und Jo gefällt mir. Du bist Lele?“

„Gewitztes Mädchen“, antwortete der Hase und nickte. „Mein großer Freund hier heißt Dino.“

Jo blickte zu dem Titan hinauf. „Weil er … ein Dino ist?“, fragte sie leise. Sie wollte den Bärendrachen nicht verärgern. Wer wusste schon, wo sein wunder Punkt war? Vielleicht, wenn man ihn in eine Aschewolke tauchte? Sicherlich konnte er sie mit seinen enormen Pranken in der Luft zerreißen.

„Yupp, waschecht!“ Er nickte erfreut und strich sich über den runden Wanst.

„Aber es gibt noch mehr in der Höhle am Wasserfall“, sagten er und Lele gleichzeitig, doch der Hase verdrehte dabei seine schwarzen Pupillen. So, wie ihre Bettnachbarin Mathilda es immer tat, wenn Jo in ihren Augen mal wieder etwas Dämliches gesagt hatte.

Da fiel ihr ein, dass sie eigentlich in ihrem Bett lag und schlief. Oder doch nicht? „Wo bin ich denn hier?“

„Oh, tja, hmmm, ist eine lange Geschichte“, brummte der Hase und nahm seine Brille ab, um sie zu putzen.

Dino wollte sich gerade auf den Boden setzen, wohl in Erwartung einer spannenden Erzählung, da packte Lele Jos Hand. „Nein, nein, papperlapapp! Ist ganz einfach. Außerdem haben wir keine Zeit. Dino, pack doch schon mal deinen Krimskrams zusammen, wir brechen auf, sobald die Sonne aufgeht.“

Jo seufzte. Der Hase war ganz niedlich, aber es würde erst in einigen Stunden wieder hell werden. Vielleicht … ja, ganz vielleicht träumte sie ja doch.

„Also Jo.“ Lele klopfte ihr mit der Pfote ans Bein, was sich zumindest real anfühlte. „Zuerst einmal musst du wissen, dass wir dich erwartet haben.“ Er stoppte und sah wohl die Skepsis in ihrem Gesicht. „Hmmm, wo soll ich nur anfangen? Ich habe Jahre damit zugebracht, um alles zu begreifen … und bin noch nicht viel schlauer. Du glaubst gar nicht, wie lange wir schon auf dich warten. Setz dich aufs Bett.“ Lele hüpfte aufgeregt zu seinem Pult und warf Papierstapel durch die Gegend. Dabei murmelte er Unverständliches vor sich hin.

Jo gehorchte lieber und blickte unsicher auf den Dino, der einen seltsamen Rucksack packte. Er war bestimmt zweieinhalb Meter groß und sah unheimlich stark aus. Doch mit seinem weichen, im Schein des Lichtes leicht bläulich schimmernden Fell wirke er brav wie ein Lämmchen. Ob sie vor ihm Angst haben musste? Schließlich stand in ihren Büchern, dass Dinosaurier Fleischfresser waren. Aber das sie sprechen konnten, davon stand da nichts. Sicher, in der alten Heimbücherei gab es nicht so viele Bücher, wie sie es gern gehabt hätte, aber eines stand für sie schon seit Jahren fest: Sie wollte etwas für Tiere machen, vielleicht sogar Falknerin werden. Sie kam mit Tieren einfach besser zurecht als mit Menschen.

„Ich habs“, rief Lele und sprang aufs Bett, sodass Jo in die Luft hopste. „Also“, flüsterte der Hase geheimnisvoll und breitete einige vergilbte Zettel vor sich aus. „Es war einmal …“

„Ein Märchen“, sagte Jo, als hätte sie endlich begriffen, und wurde rot.

„Nein, nein.“ Der Hase schüttelte sein Köpfchen und verdrehte die Knopfaugen.

„Doch, sie hat recht! So fangen Märchen an. Victor Hugo hat das so erzählt“, donnerte Dino los, sodass Jo zusammenzuckte.

„Ja. Dino, Jo, ihr habt recht. Aber das, was ich euch jetzt erzähle, ist kein Märchen. Es ist unsere Geschichte. Jo wundert sich doch bestimmt, dass wir sprechen und so nett sind.“ Der Hase puffte Jo in die Seite, grinste und beugte sich ein wenig vor. Verschwörerisch fing er an, ihr von Efil zu erzählen.

Jo verstand nicht. „Eff … iel?“, raunte sie und sah Lele misstrauisch von der Seite an. Sie traute ihm zu, dass er sie nur veräppeln wollte.

Efil“, brüstete sich Dino stolz.

Der Hase sah Jo an und seufzte. „Eigentlich wollte ich dir das auf dem Weg erklären.“ Lele warf einen Blick auf die große Standuhr. „Ich versuchs mal ganz einfach.“

„Ja, bitte“, brummte Dino dazwischen.

Jo unterdrückte ein Kichern. Der lebte doch hier.

Lele rollte ein Pergament aus und tat so, als hätte er Dinos neugieriges Interesse nicht mitbekommen. Die beiden waren schon ein süßes, wenn auch eigenartiges Gespann.

„Das habe ich gezeichnet. Schön, nicht? Es ist Efil. Leider existieren keine Karten, da sich kaum jemand über die Grenzen wagt. Aber aus Büchern, die mir Freunde und auch Feinde überlassen haben“, Lele räusperte sich, „habe ich eine Landkarte erstellt. Ob’s stimmt, müssen wir dann noch herausfinden.“

Jo legte ihren Kopf ein wenig schräg. Sie erkannte ein Meer zur Linken und unten die Küstenlinie, Berge, Wälder und Seen. Ja, sehr hübsch.

„Das alles, Jo“, Lele ließ seine Pfote auf der linken Seite des Blattes vom Norden in den Süden gleiten, „ist Evol, unsere Heimat. Alles rechts hinter dem Frontgebirge ist das Gebiet Etah, die dunkle, andere und sogar mir unbekannte Hälfte von Efil.“

So weit klar, dachte Jo, die sich bereits an ihren neuen Namen gewöhnt hatte.

„Doch es ist so“, murmelte Lele und wiegte das Hinterteil, sodass das weiße Pummelschwänzchen rechts und dann wieder links zu sehen war. „Etah wird immer und immer größer. Es hat sich bereits kriegerisch Gebiete von Evol genommen und breitet sich aus wie die Pest. Bald, so befürchte ich, wird es Evol nicht mehr geben.“

Dino schlug die Hand vor den breiten Mund und sogar die Beleuchtung flackerte etwas. Lele warf einen bösen Blick nach oben.

Jo sah zum ersten Mal direkt ins Licht. Boah, was war das denn? Da kauerte auf einer Minihängematte ein winziges Wesen. Fast wie eine Raupe, aber mit einem Kleidchen – einem Nachthemd. Das Glühwürmchen hielt sich die Fingerchen vor das Gesicht, als befürchtete es, das Dunkel von Etah könnte nun schon über sie hereinbrechen.

Jo versuchte, alles hinzunehmen, und deshalb nickte sie tapfer. Sie setzte sich in den Schneidersitz und schob ihre kalten Füße unter die Oberschenkel. Immer noch sah sie aus wie ein Schornsteinfeger, der im Nachthemd gearbeitet hatte. Wie peinlich. Gedankenverloren schaute sie auf das verblichene Blatt vor ihr auf dem Bett. „Und was ist das?“ Je länger sie auf die Karte blickte, desto mehr erkannte sie. Ein Stern mit unzählig vielen Spitzen hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Lele warf einen Blick auf ihren ausgestreckten Finger und zog die Brauen zusammen. „Ohra, die tote Stadt.“

Jo hatte sich wohl verhört.

Lele lachte rau und sprang vom Bett. „Aber da werden wir nicht hinmüssen.“ Der Hase verschwand flink hinter einem Vorhang in einer Nische. „Hoffe ich“, fügte er viel leiser hinzu.

Jo atmete tief durch. War sie verrückt geworden? Sie kratzte sich am Kopf und sah sich nochmals um. Dabei überflog sie die Titel der dicksten Bücher im Regal, wie sie es auch in der Bücherei im Heim so gern tat. ‚Heilpflanzen – wie sie den begehrten Wanderer finden‘ ‚Sirbilok – Stadt der seltenen Pflanzen‘, ‚Die Sexualität der Dinosaurier‘, ‚Wie man ein Ungeheuer bezwingt‘ … Jo runzelte die Stirn.

Der Hase tauchte aus dem Kabuff auf. Jo sah gerade noch, wie er bunte Steinchen unter einer Fellklappe an seinem Bauch verstaute. Dazu eine wunderschön weiß leuchtende, lange Feder. Von was für einem Vogel die wohl war? Lele zog sich den Rucksack auf den Rücken, den er hinter sich hergeschleift hatte, rückte sich die Nickelbrille zurecht und schaute sich in seinem gemütlichen Zuhause um, als würde er es lange Zeit nicht wiedersehen. Dann nickte er und begab sich in den zwielichtigen Flur, der steil nach oben zu führen schien. Sie waren tatsächlich unter der Erde.

Jo blickte den beiden erstaunt nach. Der Dino zwängte sich am Ende des Ganges grummelnd durch ein Loch und verschwand, Lele drehte sich zu ihr um. „Komm! Wird Zeit aufzubrechen, um Efil zu retten.“ Sein weißer Pummel verschwand ebenfalls hinter einem dicken Samtvorhang. Das Glühwürmchen schien nun keine Veranlassung mehr zu haben, Licht zu spenden, da der Hausherr fort war. Es verblasste.

„Hey, wartet“, rief Jo und stolperte hinter ihnen her. Sie würde alles tun, aber bestimmt nicht allein und im Dunkeln zurückbleiben.

Sie steckte den Kopf vorsichtig an dem dicken Samt vorbei. Frische Luft wehte ihr um die Nase und sie erkannte, dass der Tag bald anbrechen würde. Vögel zwitscherten in den noch schwarz erscheinenden Bäumen, hinter denen der Horizont orangefarben glühte. Drei rote Punkte schienen Jo von einer der Baumkronen aus anzustarren, was ihr einen Schauder den Rücken hinabrieseln ließ, doch vor der Baumreihe standen ein großer und ein kleiner Scherenschnitt. Dino und Lele. Erleichtert atmete Jo aus. „Warum soll ich denn nu mitkommen?“

Der Hase hielt ihr einen weichen Lauf entgegen und half ihr aus dem Ausgang hinaus. Er straffte die Gurte des Rucksacks. „Oh, weil wir ohne dich keine Chance haben. Du weißt ja, ich habe mich seit Jahren, ach, was rede ich, seit Jahrzehnten damit beschäftigt. Wir sind so froh, dich endlich bei uns zu haben.“

Jo seufzte aus tiefstem Herzen. Sie wusste zwar überhaupt nicht, worum es ging, aber dies war das erste Mal in ihrem Leben, dass sich jemand aufrichtig freute, dass sie da war – lebte.

„Und jetzt machen wir uns auf den Weg.“ Lele schaute ernst zu ihr auf, ordnete den Samtvorhang vor seinem Bau und tätschelte dann Jos linkes Bein, was ein wenig kitzelte. Beherzt wandte er sich ab und stolzierte förmlich auf einem schmalen Trampelpfad gen Sonnenaufgang.

Jo sah Dino an, der nur mit den Schultern zuckte und hinterherstapfte.

Vorsichtig hüpfte sie auf ihren nackten Füßen hinterher. „Wohin soll es denn gehen, Lele?“

Lele fuchtelte kurz mit einem Arm in der Luft herum, ohne sich umzudrehen. „Tja, das ist das kleine Problem, das wir haben. Bis jetzt ist keiner, der danach suchte, wonach wir suchen, zurückgekehrt, sodass wir nichts über den Aufenthaltsort wissen, wo das sein soll, was wir unbedingt brauchen.“

Jo stutzte und sah Dino von der Seite an, wobei sie extrem weit nach oben sehen musste. Sie war zwar nicht von gestern, aber … „Spricht er immer so … kompliziert?“, flüsterte sie.

Dino nickte. „Und er hat gute Ohren.“

Jo grinste, auch wenn es ihr ein wenig unangenehm war. Klar, ein Hase eben, der hatte große Löffel. Sie ließ sich den langen Satz von Lele noch einmal durch den Kopf gehen, und schon wieder durchlief sie ein kalter Schauder. Wusste keiner, wo das wichtige Etwas von Lele war, weil sie alle tot waren? Vielleicht sollte sie besser nicht mitgehen. Doch andererseits … Dies hier war um einiges aufregender, als sich im Heim vor blöden Jungen und Mitbewohnerinnen zu verstecken.

„Aber mit dir werden wir alles finden“, brummelte Lele auf einmal vor sich hin, während er ein gutes Tempo anschlug.

Jo schluckte. Wenn Lele der Meinung war, schön und gut, doch ihre war es ganz gewiss nicht. Dennoch sah sie zu, hinterherzukommen.

 

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